Madame Lorettas Zorn (oder Die Leiden des jungen Caruthers)


VORSICHT SPOILER! für Die Gossen von Farefyr



Er hatte nicht einmal Appetit auf ein Stück Marzipan. Ein untrüglicher – sehr seltener – Beweis dafür, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er war in Sorge und das war noch milde ausgedrückt für seine Empfindungen.

Ein offenbar eingeweihter Wachmann vor den Toren der Festung hatte ihn fortgeschickt, als er ihn bemerkt hatte.
Die benutzte Wortwahl – ‚Du sollst keinen Blödsinn anstellen, sie hat alles im Griff.’ – hatte sich wahrhaft verdächtig nach Temperance angehört und aus diesem Grund hatte er vertrauensvoll den Rückweg angetreten.

Diese fehlgeschlagene Einschleichung würde im Übrigen wohl eine neuerliche Bestätigung für das vorlaute Mädchen sein, dass er in keinster Weise zur Raubkatze taugte. Er schmunzelte, so amüsiert es ihm unter diesen Umständen möglich war, während er es kaum erwarten konnte, Temp von seinem missglückten Rettungsversuch zu berichten. 

„Wen haben wir denn da? Genau den Kerl, den ich gesucht habe!“
Eine rauchige, wenig erfreute Frauenstimme riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn verwirrt innehalten. Sprach man mit ihm?
Die weißhaarige Dame, die eine Sekunde zuvor ums Eck gebogen war, fixierte ihn mit einem solch scharfen Blick, der ihm die Antwort gab.
„Jeff, Jason! Packt ihn euch!“
Ihr Befehl wurde ohne Zögern von ihren Schergen ausgeführt und Keith fand sich zwischen zwei bulligen Männern wieder, die ihn mit unerbittlichem, festem Klammergriff zwangen, an Ort und Stelle zu verweilen.
„Was zur Hölle soll das?!“ Seine Empörung war nicht gespielt.
„Was für ein Zufall! Genau das habe ich mich auch gefragt, als ich hörte, dass Granvells Bote bewusstlos in der Toilette meines Etablissements aufgefunden wurde.“, gab die Alte zurück, deren Namen er jetzt schlagartig wusste.
Madame Loretta.
Verflucht! Er schien in Schwierigkeiten zu stecken.
Mal ganz abgesehen von den grauenhaften Bildern einer nackten Madame, welche sich, dank Miles’ ausführlicher Schilderung der Ereignisse im Gerichtssaal, in sein Gehirn eingebrannt hatten…
„Ein stadtbekannter Wüstling soll zuletzt mit dem armen Mann gesehen worden sein und siehe da, genau den habe ich jetzt vor mir.“, raunte die – zum Glück bekleidete – Madame, während sie ein paar Schritte näher kam und ihn auf eine merkwürdige Art von oben herab musterte, obwohl sie ihm nur knapp bis zur Brust reichte.
Ein seltsamer Blick, den auch Temperance stets aufsetzte, wenn sie ihn neckte – wenngleich jener des Nachtschattens um einiges verführerischer anmutete.
Unwillkürlich grinste er und fand zu seiner Ermutigung seinen Humor wieder, der ihm kurz abhanden gekommen war.
„Ich würde mich eher als charmanten Lebemann bezeichnen, aber gut…“, erwiderte er in scherzendem Tonfall. „Ich entschuldige mich aufrichtig für die Unannehmlichkeiten. Es ist ja allerdings auch nicht so, als hätte ich ihn umgebracht und eine Riesensauerei veranstaltet.“
In ihren Augen blitzte etwas auf, das er wohl als Kampflust deuten musste.
„Denkst du, ich habe nichts Besseres zu tun, als den Dreck hinter dir wegzukehren?“, forderte sie zu wissen, obwohl er daran zweifelte, dass die werte Madame eine Antwort darauf erwartete.
„So viel Dreck wird er nicht gemacht haben, wenn er bewusstlos gewesen ist.“
Obwohl ihre Haltung ihm längst verraten hatte, dass er mit Witzeleien nicht weit kommen würde, besaß er die Kühnheit zu dieser Erwiderung.
„Du scheinst nicht zu ahnen, in welchen Schwierigkeiten du steckst.“, meinte sie langsam und es klang tatsächlich bedrohlich. „Granvell wird nicht erfreut sein, wenn er von diesem Zwischenfall erfährt. Meinen Zorn wirst du jetzt gleich zu spüren bekommen.“
Noch ehe er nachfragen konnte, was genau das heißen sollte, nickte sie einem der Leibwächter zu. Dieser drückte ihn gewaltsam nach vorne, während der andere an seinem Hosenbund nestelte. Diese Geste war unmissverständlich und jede weitere Frage, was kommen würde, war unnötig geworden.

Keith konnte sich kaum bewegen, versuchte dennoch sich aus dem Griff zu winden. Vergeblich. „N–Nein! Halt! Wartet!“
Sein stotternder Ausruf verschaffte ihm tatsächlich eine kurze Auszeit, in welcher Madame Loretta belustigt, wie ihm schien, grinste.
„Keine Angst, es tut nur ein klein bisschen weh.“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen, was sie natürlich nicht im Geringsten vermochte.
Schweiß stand ihm auf der Stirn, während er fieberhaft nach einer Möglichkeit suchte, dieser bizarren Situation zu entfliehen.
Er wurde fündig und setzte ein, wie er hoffte, anzügliches Lächeln auf, während er aus geduckter Haltung zu ihr aufsah. „Das ist doch nicht die Art einer edlen Madame. Ich bin mir sicher, dass ich mich auf eine Weise entschuldigen könnte, die einer hübschen Frau wie Euch gewiss mehr Vergnügen bereiten würde.“
Der Ausdruck auf ihrem faltigen Gesicht verriet ihm, dass er die Türe zur Flucht aufgestoßen hatte. „Oho… Du möchtest es also mit mir aufnehmen? Ich hab’ schon einiges über dich gehört, aber ich bin mir sicher, ich kann dir auch noch was beibringen, mein Kleiner.“
„Es wäre mir eine Freude von Euch zu lernen…“, gab er mühsam zurück.
Es wäre ihm in Wahrheit eine Freude, wenn ihm sein Mittagessen nicht gleich hochkommen würde.
„Gut. Gehen wir zu dir oder zu mir?“, fragte sie heiser und schenkte ihm ein dreckiges Lächeln.

Eine Türe zur Flucht?
Es war wohl eher das Tor zur Hölle, welches er aufgetreten hatte!
Nur die Ruhe. Es gab immer einen Ausweg.

„Nach dieser anstrengenden Nacht würde etwas Schlaf gewiss für mehr… Standhaftigkeit sorgen. Morgen Mittag wäre doch wundervoll, oder nicht?“, schlug er vor und versuchte möglichst verheißungsvoll zu klingen.
Madame Loretta schien einen Moment zu überlegen, in dem er – innerlich schreiend und mit heftig pochendem Herzen – betete, dass sie dieses Angebot annehmen würde.
„Du machst deinem Ruf ja alle Ehre… Nun gut, glaub aber ja nicht, dass du mir entkommen kannst. Es gibt keinen Ort in Farefyr, an dem du dich vor mir verstecken kannst! Alles klar?“
Keith gab einen leisen Laut des Entsetzens von sich und sich schockiert über ihr Misstrauen. „Wer würde sich denn verstecken wollen?“, fragte er zittrig, schüttelte den Kopf und biss sich auf die Zunge.
Abgesehen von jedem männlichen Wesen, das halbwegs bei Verstand war!

„Dann sind wir uns ja einig.“, nickte sie fahrig und ihre Untergebenen gestatteten ihm durch Lockerung der Griffe, sich aufzurichten.
Sein erleichtertes, unhörbares Aufatmen kam zu früh. Mit zwei Schritten war sie bei ihm angekommen, legte ihm eine Hand in den Nacken und presste ihre Lippen auf die seinen, ehe sie ihre Zunge in seinen Mund zwängte.
„Ein kleiner Vorgeschmack, mein Süßer.“, meinte sie grinsend, als sie von ihm abließ. Ihr knochiger Finger umkreiste sein Kinn und sie zwinkerte ihm zu.
In einer fließenden Bewegung wandte sie sich von ihm ab und entfernte sich mit betontem Hüftschwung, der wohl ebenfalls ein Vorgeschmack sein sollte.
Die Vorspeise eines Menüs, dessen Hauptspeise er niemals kosten würde.
„Jeff, Jason! Ihr könnt ihn loslassen!“
Die Männer taten wie ihnen geheißen und folgten ihrer Herrin.
Keith rieb sich die leicht schmerzenden Handgelenke und wartete, bis er alleine in der dunklen Gosse stand, ehe er auf die Pflastersteine spuckte.
Das Gefühl, jetzt einen Schluck Whiskey zu brauchen, übermannte ihn.
Bei Gott, sie mussten schnellstens aus dieser Stadt verschwinden!
Bis zum Sonnenaufgang wollte er über alle Berge sein.
Nein, über ganze Bergketten wollte er dann bereits sein, deren Spitzen bis zu den Wolken am Himmel reichten und ihn zuverlässig und sicher von Madame Loretta trennten. Vielleicht, vermutlich, hoffentlich… würde sie dann irgendwann vergessen, dass es irgendwo auf dieser Welt einen Keith Caruthers gab, der ihr noch ein freudiges Betterlebnis schuldete.
Die Gossen von Farefyr waren viel gefährlicher als er angenommen hatte und er wollte ihnen nicht zum Opfer fallen.


© 2013 by Temper R. Haring


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